Ein Kraft-Werk im Kraftwerk: Lin Hwai-Min und das Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan bei den Movimentos in Wolfsburg
Lin Hwai-Min sitzt im Restaurant Hafenterrasse des Nobel-Hotels Ritz-Carlton Wolfsburg und schaut am Frühstückstisch entzückt auf sein Smartphone. Der 71jährige Choreograph nippt an seinem Tee und freut sich über ein Video vom Vorabend-Auftritt des Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan, jener legendären, zeitgenössischen Tanz-Company, die er 1973 gegründet hat und bis heute leitet. Am Abend zuvor war hier in Wolfsburg Europa-Premiere seiner Choreographie “Formosa”. Es gab minutenlangen, tosenden Applaus. Zu Recht.
Drei Abende gastierten Lin und das Cloud Gate Dance Theatre bei den diesjährigen Movimentos in Wolfsburg. Movimentos: Das ist eines der renommiertesten Tanz- und Kulturfestivals Deutschlands. Von der Autostadt 2003 ins Leben gerufen, zieht es alljährlich tausende kultur- und tanzbegeisterte Zuschauer aus ganz Deutschland nach Wolfsburg. Viele Gäste wohnen dann im Ritz-Carlton, gleich neben der Hauptspielstätte, dem unter Denkmalschutz stehenden alten Volkswagen-Kraftwerk mit den vier weithin sichtbaren Schloten.
Getrennt werden Hotel und Kraftwerk nur durch ein Hafenbecken, in dem der imposante Hotel-Pool verankert ist. Beim Abendessen im hotel-eigenen Restaurant “Terra” hat man einen schönen Blick aufs Wasser, bevor man dann – während der Movimentos-Spielzeit – nach Dessert und Digestif über einen Steg hinüber ins Kraftwerk gehen kann. Zum Beispiel, um sich Lin Hwai-Mins Werk “Formosa” anzuschauen. Famos: Dichter dran am Geschehen kann man nicht sein. Komfortabler wohnen, als hier im 5-Sterne-Haus auf dem Gelände der Autostadt, auch nicht.
“Würde” ist das Motto der diesjährigen, 16. Movimentos-Festwochen. Würde strahlt nicht nur der Macher des Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan, Lin Hwai-Min, aus. Auch die Tänzerinnen und Tänzer seiner Company, die morgens still, diszipliniert und kerzengerade im Ritz-Carlton mit ihrem Meister beim Frühstück sitzen, haben etwas Erhabenes, Würdevolles in sich. Würdig ist auch Lin Hwai-Mins wohl letzter Auftritt in Deutschland: 2019, so hat er es angekündigt, will sich der Meister von den internationalen Tanz-Bühnen in den Ruhestand verabschieden. Ein Abschied mit einer letzten großen Tanzdarbietung, die es in sich hat: Mit “Formosa”, einer aufwendig Tanz-gewordenen Ehrerbietung an seine Heimat Taiwan.
Den beim Frühstück im Ritz-Carlton noch so schmächtig und grazil wirkenden Tänzerinnen und Tänzern des Cloud Dance Theatre of Taiwan wird am Abend in “Formosa” alles abverlangt: Dann explodiert das Ensemble in einer beeindruckenden Wucht an unterschiedlichen Tanztechniken und Bewegungssystemen, die den Zuschauern zeitweise den Atem stocken lassen.
Das Tanzwerk erzählt die Geschichte der Insel Taiwan seit ihrer Entdeckung durch portugiesische Seefahrer im 16. Jahrhundert, die beim ersten Anblick “Formosa!”, also “wunderschön!” gerufen haben sollen. Lin Hwai-Min läßt seine Tänzer Bilder von Gräsern und Halmen tanzen, die sich im Wind biegen, von Jahreszeiten, Erdbeben, Bergen, Flüssen und Tieren. Seine Company tanzt Harmonie und Gemeinsamkeit, Unheil, kriegerische Auseinandersetzung und Kampf. Es geht um Liebe, Hoffnung, Tragödien und Wiedergeburt. Dabei verbindet Lins Choreographie Elemente aus klassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz mit traditionell asiatischen Bewegungssystemen, Formen aus der Pekingoper und kraftvollen Aikido-, Judo- und anderen Kampfsportelementen. Drei Kampfsportmeister begleiten und trainieren die Tänzerinnen und Tänzer auf der Tournee.
Untermalt werden die Bewegungen mit Gesang, einer chinesischen Stimme aus dem Off, und kalligraphischen Projektionen, die dem Bühnenraum je nach Szenerie Tiefe und Bewegung, Leichtigkeit und Druck, Licht und Dunkel geben. Alles ist in Bewegung, mehr als eine Stunde lang, erst harmonisch, dann energetisch immer aufgeladener, bis zur Kraftexplosion während einer Phase, in der sich zwei Tänzer-Gruppen im Kampf gegenüberstehen. Lin Hwai-Min zeigt den Zusammenbruch einer Gesellschaft und die Wiedergeburt des Individuums. Es bleibt Raum für Spekulationen und Interpretationen. Und das geradezu physische Spüren der Kraft und Energie, die sich von den Bewegungen der Körper auf der Bühne auf das Publikum im Saal des Kraftwerks überträgt.
Nie zuvor habe ich am Ende einer Tanzveranstaltung so verschwitzte Körper gesehen, wie hier nach der Aufführung von Formosa auf der Bühne des VW-Kraftwerks in Wolfsburg. Die Brustkörbe bebten auch noch nach dem fünften Vorhang. Tosender Applaus. Ein Kraft-Werk im Kraftwerk. Erhaben und würdevoll. Ein würdiger Abschied. Kann es eine bessere Location geben für dieses Stück?
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