Shalom und Salem von der jüdischen La Ghriba Wallfahrt auf Djerba, Tunesien
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Die La Ghriba Synagoge auf Djerba ist jedes Jahr zum Feiertag Lag-BaOmer Ziel tausender Juden aus aller Welt.
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Erriadh, Tunesien – Am Tag vor Lag-BaOmer, einem fröhlichen Feiertag, der jedes Jahr am 33. Tag nach Pessach stattfindet, hat Achir Achouch alle Hände voll zu tun. In seinem Imbiss Le Roi De Brick Youna im überwiegend von Juden bewohnten Hara Kebira, dem „großen jüdischen Viertel“ in der Stadt Houmt Souk auf der tunesischen Insel Djerba klappern Pfannen und Schalen, hacken flinke Messer Fleisch und Geflügel, Fisch, Gemüse und Kräuter, brodelt heißes Speiseöl in großen Töpfen. An Lag-BaOmer sollen Achirs Speisen in der La Ghriba Synagoge im benachbarten Erriadh verkauft werden.
La Ghriba – Die Geschichte der Synagoge
Um die Geschichte dieser Synagoge und ihrer Gemeinde ranken sich Legenden. Hier sollen die ersten Juden Nordafrikas auf einem Stein des vom babylonischen König Nebukadnezar 586 v.Chr. zerstörten Jerusalemer Tempels die weltweit älteste Synagoge außerhalb Israels errichtet haben. Benannt wurde das Gotteshaus nach der Heiligen La Ghriba, „der Wundertätigen“, einer geheimnisvollen Frau, um die sich ebenso viele Legenden ranken. Sicher ist nur, daß bereits 700 Jahre v.Chr. viele Juden vor den Babyloniern über Ägypten und Libyen nach Südtunesien flohen und daß an dieser Stelle seit 2000 Jahren eine Synagoge steht. Ebenso nachgewiesen ist der Zuzug vieler serfardischer Juden, die zur Zeit der Inquisition im 14. und 15. Jahrhundert aus ihrer Heimat in Spanien nach Djerba flohen.
Podcast: Die La Ghriba Wallfahrt Reportage auf Radio Potsdam:
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Das heutige Gebäude der Synagoge stammt aus den 1980er Jahren und wurde nach einem terroristischen Anschlag am 11. April 2002 aufwendig instandgesetzt. Die Sicherheitsvorkehrungen rund um die Synagoge sind seitdem extrem hoch, ganz besonders während der Feierlichkeiten zu Lag-BaOmer. Spezialeinheiten von Polizei und Militär sichern das Areal rund um La Ghriba hermetisch ab – mit Panzerfahrzeugen, Scharfschützen, Hubschraubern und vielen zivilen Geheimdienstmitarbeitern.
Mizrachim und Aschkenas
Die La Ghriba Wallfahrt zieht sich über mehrere Tage hin, Lag-BaOmer ist aber der Tag, an dem am ausgiebigsten gefeiert wird. Es wird gemeinsam gesungen, gebetet, gelacht und getanzt. Die Synagoge ist vor allem eine Begegnungsstätte für ursprünglich aus Tunesien stammende Juden und ihre Nachfahren, die die Wirren der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg in alle Welt verstreut haben. Für sie ist La Ghriba zum Sehnsuchtsort aller Juden geworden, die Tunesien nach 1948 verlassen haben. Die aus Afrika und Asien stammenden jüdischen Flüchtlinge nennen sich „Mizrachim“ – im Gegensatz zu den aus Europa emigrierten oder vertriebenen „aschkenasischen“ Juden.
Die La Ghriba Pilger kommen aus Israel, Frankreich, Belgien, England, Spanien, Italien, USA, Russland und anderen Ländern, bringen Kind und Kegel mit, tragen oft die Sehnsucht nach der alten Heimat im Herzen, trinken den Feigenschnaps „Boukha“ – das von Juden erfundene tunesische Nationalgetränk – kleiden sich meist festlich, freuen sich auf Rituale, Zeremonien und Riten. Feiern macht hungrig. Deshalb hat Achir im Vorfeld so viel zu tun.
Achir’s Mitarbeiter formen aus pürierten Kichererbsen, Gewürzen und Kräutern leckere Falafel, um sie anschließend zu frittieren. Es werden Köfte angemischt, kräftig gewürzte Lammhackbällchen, die später gebraten werden sollen. Das Lammfleisch wurde zuvor vom benachbarten Metzger koscher zubereitet. Achir selbst schleppt frisch gefangenen Fisch heran, der mit einem groben Messer zerlegt wird und als Füllung der Briks dient, jenen zu Dreiecken geformten und in Öl ausgebackenen Weizenteigtaschen, die es auch in Variationen mit Hähnchenfleisch, Käse, Ei, Gemüse und Harissa gibt.
Achir’s Briks sollen die besten der Stadt sein. Davon hat auch David Cahn gehört. David (28) ist askenasischer Jude, kommt ursprünglich aus Zürich, lebt aber inzwischen in Jerusalem. Er stammt aus einer religiösen Familie, ist Student eines Rabbinerseminars, strebt die Smicha (Ordination) an und ist mit befreundeten Juden aus Israel angereist, um an der La Ghriba Wallfahrt teilzunehmen. In einer charmant-fröhlichen Mischung aus Schwyzerdütsch, Jiddisch und Hochdeutsch erklärt der angehende Rabbi, daß seine Großmutter aus Marokko stamme und vor mehr als 40 Jahren nach Frankreich ausgewandert sei. So, wie es auch viele tunesische Juden getan hätten. Sein Vater lebe noch in Zürich und ihn habe es nun nach Israel verschlagen. Von La Ghriba hatte er schon viel gehört. Nun wolle er endlich auch mal an der Wallfahrt teilnehmen.
La Ghriba und das Schicksal der Juden in Tunesien
Die Geschichte der Großmutter ähnelt der Geschichte vieler Juden, die nach 1948 die Maghreb-Staaten verlassen haben oder verlassen mußten. In Tunesien lebten bis in die 40er Jahre mehr als 100.000 Juden, etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bis dato gab es in Tunesien eine friedliche Koexistenz von Muslimen und Juden. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen 1942 kippte die Stimmung und mit der Gründung des Staates Israel 1948 wanderten viele tunesische Juden ins Gelobte Land aus.
Konflikte zwischen Juden und Muslimen, die ihre jüdischen Mitbürger mit der Politik des Staates Israel gleichsetzten, gab es auch nach dem Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Ländern Ägypten, Jordanien und Syrien im Juni 1967 und dem Yom-Kippur-Krieg 1973. Viele tunesische Juden emigrierten nach Israel, Frankreich und USA, weitere verließen das Land 1979, als die PLO und die Arabische Liga ihre Hauptquartiere nach Tunis verlegten und sich die Ressentiments gegenüber den Juden im Land verstärkten.
Weiteres Ungemach befürchteten die verbliebenen Juden nach der Revolution von 2011 und einem befürchteten Erstarken islamistischer Kräfte. Zum Glück kam es anders. Nachdem der langjährige Despot Ben Ali, der die Juden in seinem Land nie unterstützt, geschweige denn geschützt hatte, im „Arabischen Frühling“ aus dem Amt gefegt worden war, etablierte sich eine liberal-demokratische Regierung, in der heute Juden und Muslime die gleichen Rechte haben. Seit Oktober 2018 ist mit René Trabelsi sogar ein Jude aus Djerba im Amt des Tourismusministers. Er ist der einzige jüdische Minister in einem arabischen Land. Diese Entwicklung gibt den verbliebenen 2000 Juden im Land, die nur noch etwa ein Promille der Gesamtbevölkerung ausmachen, Hoffnung.
Diese Hoffnung teilen auch die aus Israel zur La Ghriba Wallfahrt angereisten Pilger. Viele von ihnen sind Nachfahren jener tunesischer Juden, die 1948 oder seit 1967 nach Israel auswanderten. René Trabelsi, der jüdische Tourismusminister eines Landes, das noch immer keine diplomatischen Beziehungen zu Israel pflegt, hat dafür gesorgt, daß die Einreisemodalitäten israelischer Pilger gelockert werden. Sein Vater Perez Trabelsi ist seit 1984 La Ghriba Präsident. Sein Sohn organisierte schon Jahre bevor er zum Minister ernannt wurde die Wallfahrt und Anreise der Pilger vor allem aus Frankreich und Israel. Mehrere hundert Israelis sind dieses Jahr nach Djerba gekommen, viele aus der Stadt Be’er Scheva, in der sich ihre Eltern und Großeltern nach dem Verlassen der tunesischen Heimat niederließen.
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“Die meisten israelischen Pilger, die nach Djerba kommen, haben einen tunesischen Ursprung. Ihre Familien kommen ursprünglich aus Tunesien. Diese Pilger erhalten mit Hilfe des tunesischen Innen- und des Außenministeriums Sondergenehmigungen, um während der Wallfahrt nach Tunesien kommen zu dürfen… 90 Prozent dieser Pilger kommen ursprünglich aus Tunesien oder haben tunesische Vorfahren.”
René Trabelsi, tunesischer Tourismusminister
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Und nun sind sie alle hier in der La Ghriba Synagoge zusammengekommen, um zu feiern. Juden aus aller Welt. Aus Israel, Europa, USA und Russland. Der Großrabbiner von Tunesien, Haim Bittane, ist ebenso dabei, wie hochrangige Rabbis aus Paris und London. Moshé Lewin, Vizepräsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner, ist aus Paris angereist, ebenso wie die französische Künstlerin und UNESCO Botschafterin Hedva Ser, die in Tunesien aufgewachsene Pariser Abgeordnete Sonia Krimi und Deutschlands Botschafter Andreas Reinicke, der erzählte, schon zum zweiten Mal an der Wallfahrt teilzunehmen. Später, am Abend, kurz vor dem gemeinsamen Fastenbrechen von Muslimen und Juden vor den Toren der Synagoge, mischt sich auch Tunesiens Ministerpräsident Youssef Chahed unter die Pilger.
Der eigentliche Star aber ist Tourismusminister Renè Trabelsi, der von den Wallfahrern gefeiert wird, wie ein Popstar. Vor allem die aus Israel und Frankreich angereisten Pilger lassen sich mit ihrem Idol fotografieren, singen für ihn und freuen sich wie kleine Kinder, in seiner Nähe sein zu dürfen. René Trabelsi symbolisiert das friedliche Miteinander von Muslimen und Juden in Tunesien. Er gibt Ihnen Hoffnung.
Die Frauen, die Eier und die Krypta
Im Bethaus der mit weiß-blau strahlenden maurischen Bögen, filigranem Schnitzwerk und bemalten Kacheln verzierten Synagoge drängen sich Frauen vor einer Luke an der Wand. Sie tragen Tüten mit hartgekochten Eiern mit sich, auf die sie zuvor Namen und Fürbitten geschrieben haben. Meist geht es um Kinderwünsche oder die Hoffnung, endlich einen Mann zu finden.
Hinter der Luke befindet sich ein winziger Raum, in den die Pilgerinnen hineinkriechen. Irgendwo in dieser Krypta soll sich der Stein befinden, der vor 2000 Jahren aus den Trümmern des zerstören Jerusalemer Tempels gerettet und hierher gebracht wurde. Die Eier für 24 Stunden in der Nähe dieses magischen Steins abzulegen, ist das Ziel der Frauen. Verspeisen die Bedachten dann das Ei, würde ihr Wunsch bald in Erfüllung gehen, glauben die Pilgerinnen. So reisen jedes Jahr unzählige hartgekochte und beschriftete Eier von Djerba in alle Welt, um Wünsche zu erfüllen.
Um dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen, spenden die Frauen während einer weiteren Zeremonie drei älteren Herren, die im Vorraum des Betraums sitzen und aus der Tora rezitieren, Trockenobst und Feigenschnaps. Erst nach dieser Spende ist einer der Herren, ein Rabbi, bereit, seinen Segen auf Hebräisch auszusprechen. Der Boukha fließt, die Frauen sind selig angetan, es wird geklatscht und gemeinsam gesungen, die Gemeinde wird immer fröhlicher.
Im gegenüberliegenden Gebäude, der alten Karawanserei, spielen derweil Musiker auf und sorgen für gute Stimmung unter den Pilgern. Von den Balkonen des zweistöckigen offenen Innenhofs blicken die Schaulustigen über gespannte Leinen mit tunesischen Fähnchen auf das muntere Treiben im Atrium und lauschen der arabisch klingenden Musik. Unten sitzen hunderte Juden, wippen im Takt der Musik, klatschen, lachen und tanzen. Auch Brik-Verkäufer Achir Achouch schiebt seinen Bauch über die Tanzfläche, dreht sich im Kreis wie ein Derwisch und freut sich des Lebens.
Ringsum sind Verkaufsstände aufgebaut, an denen Silber- und Goldschmuck, handgefertigte Trachten und Süßes angeboten werden. Die tunesische Post verkauft an einem Tisch La Ghriba-Sonderbriefmarken und Postkarten. In den Innenhöfen der Nebengebäude gibt es reichlich Speis und Trank, auch Köfte und Falafel aus Achir Achouchs Imbiss.
Die Lautsprecher dröhnen und Freundenträller gellen über den Hof. Viele Frauen haben sich in Schale geworfen, tragen schicke Festtagskleidung, High-Heels und teuren Schmuck, als kämen sie direkt von den Champs-Élysées. Und sie fiebern dem Auftritt des Zeremonienmeisters entgegen, der die jährlich stattfindende Versteigerung zugunsten der Synagoge leitet.
Der „Zeremoniar“ heißt Marco Ladoul, ist ein djerbischer Jude, der vor Jahren nach Paris auswanderte und jedes Jahr eigens für diese Versteigerungszeremonie aus Frankreich anreist. Er ist der Chef im Ring. Sein Haar unter der Kippa ist schon ergraut, sein fröhliches Gemüt aber wirkt wie das eines kleinen Jungen, der ganz viel Spaß hat. Mit seinem hellblauen Hemd, der weißen Hose und der Silberkette mit Emblemen wie der „Hand der Fatima“ am Hals wirkt er wie ein französischer Star-Entertainer und bringt die Frauen dazu, für allerlei Kitsch und Tand wie blecherne Menorahs und bunte Hochzeits-Schals viel Geld auszugeben.
Den Damen aus Frankreich und Israel ist es fast egal, was sie ersteigern, es geht vielmehr darum, daß Ihr so eroberter Gegenstand später bei der traditionellen Prozession kurz vor Sonnenuntergang an eine Pyramide mit Gold- und Silberverzierungen gehängt wird, und auf einem kleinen Wagen durch die Menschenmenge zum Eingangstor der Synagoge gerollt wird.
Als die Prozession am Abend beginnt, ist der Wagen dicht behangen mit Tüchern und Gegenständen aus der Versteigerung. Marco Ladoul war erfolgreich, die Kasse klingelt und er persönlich steht während der Prozessionsfahrt wie ein kleiner König auf dem Wagen. David Cahn freut sich, endlich die La Ghriba Wallfahrt, von der er in Jerusalem so viel gehört hatte, persönlich erlebt zu haben. Und Achir Achouch, der den ganzen Tag gefeiert und getanzt hat, tanzt auch jetzt neben dem Wagen in der Menschenmenge, Arm in Arm mit einem guten Freund und freut sich des Lebens. Alle Köfte, Falafel und Briks wurden unter die Leute gebracht. Was für ein Tag, was für ein Fest! Shalom und Salem!
Alle Fotos: ©Peter von Stamm
Abdruck nur nach Honorarabsprache!
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