St. Gallen und der Stoff aus dem die Träume sind
Wäre ein irischer Mönch nicht vor 1400 Jahren in der Nähe des Bodensees in einen Dornenstrauch gestolpert, hätte Prince William’s Schwägerin Pippa Middleton wohl nicht in “Spitze aus St. Gallen” heiraten können. St. Gallen wäre nicht UNESCO Weltkulturerbe und ich könnte wahrscheinlich auch nicht von “Blauer Kartoffelsuppe im Schlössli” berichten.
Dieser Artikel erschien in ähnlicher Form auch in der Sindelfinger Zeitung
St. Gallen – von der Einsiedlerklause zum Welterbe
Der Legende nach wanderte einst der irische Mönch Gallus durch diese damals heidnische Region der Alemannen. Sein Dienstherr, der Missionar Columban von Luxeuil, hatte Gallus hierher geschickt, um die Heiden zum christlichen Glauben zu bekehren. Als Gallus durch die Mülenenschlucht stapfte, stolperte und fiel er in einen Dornenstrauch. Anstatt verärgert von dannen zu ziehen, interpretierte Gallus die leidvolle Erfahrung als ein Zeichen Gottes, sich hier niederzulassen. Im Jahre 612 errichtete er am Fluss Steinach eine Einsiedlerklause, der sich im Laufe der Jahre weitere Mönche anschlossen. Etwa 100 Jahre später hatten sich viele Menschen der Gegend missionieren lassen. Priester Otmar gründete eine Abtei und benannte sie zu Ehren des irischen Mönchs “St. Gallen”.
Heute ist St. Gallen eine weltberühmte Stadt. Aus der einstigen Abtei entwickelte sich ein imposanter Stiftsbezirk mit sehenswerten Gebäuden und weit über die Schweizer Landesgrenzen hinaus bekannten kulturellen Schätzen: Die barocke Kathedrale aus dem 18. Jahrhundert (“Stiftskirche St. Gallus und Otmar”) ist das Wahrzeichen der Stadt. An den Klosterhof zu Füßen der Kirchtürme grenzt das Stiftsarchiv: Das älteste Klosterarchiv des Abendlandes enthält mehr als 850 Original-Urkunden aus der Zeit vor dem Jahr 1000.
Barocksaal der Stiftsbibliothek
Das Highlight des Stiftsbezirks ist aber die Stiftsbibliothek, die sich in einem Anbau der Kathedrale befindet Sie ist eine der größten und ältesten Klosterbibliotheken der Welt. Hier lagern mehr als 170.000 Bücher und 2000 Originalhandschriften aus dem Mittelalter. Ihr zentraler, prunkvoller Barocksaal, in dem mehr als 50.000 Bücher lagern, zählt zu den schönsten der Schweiz. Der gesamte Stiftsbezirk, zu dem auch das Karlstor und ein letztes Teilstück der ehemaligen Klostermauer gehören, wurde 1983 in die UNESCO Weltkulturerbe-Liste aufgenommen.
Um sich einen Überblick über das heutige St. Gallen zu verschaffen, sollte man den Ort aufsuchen, wo alles begann: Die Mülenenschlucht. Hier gibt es einen Themen-Weg, der hinauf zu den Drei Weieren führt, hoch oben über der Stadt. Wer nicht laufen mag, nimmt die Mühleggbahn, eine Zahnradbahn, deren Talstation sich nur wenige Schritte von der Stiftsbibliothek befindet. Oben angelangt, sind es noch ein paar Treppenstufen bis zum Dreilindenweg, kurz Dreilinden genannt, einem herrlichen Panoramaweg der zu den Drei Weieren führt. Bei gutem Wetter kann man von hier bis zum Bodensee blicken.
Oben auf dem Dreilindenweg
Der Name Drei Weieren irritiert etwas. Eigentlich sind es fünf künstlich angelegte Weiher, die heute zum Teil auch als öffentliche Badeseen genutzt werden, einer davon sogar kostenfrei. Die ersten drei, die angelegt wurden und dem Gebiet seinen Namen gaben, stammen aus dem 17. Jahrhundert und dienten der Wasserversorgung der Stadt. Hier ist es still und friedlich. Kühe zotteln über die Wiesen, Jogger laufen ihre Bahnen, Muttis schieben Kinderwagen, Rentner sitzen auf den Bänken und schauen hinab auf ihre Stadt, die weitaus mehr zu bieten hat, als den historischen Stiftsbezirk.
Sonnenbadende an einem der Weiher oberhalb der Stadt
St. Gallen – Welterbe- und Gourmet-Stadt
St. Gallen ist nicht nur Welterbe-, sondern auch Gourmet-Stadt: Nach dem Rückweg von Dreilinden hinab in die Altstadt empfehle ich zur Stärkung die Einkehr in einem der Erststock-Beizlis. Das sind sehr urige (man sagt hier “urchige”), traditionelle, kleine Restaurants im ersten Stock historischer Gebäude. Die Decken der Gasträume sind oft niedrig, die Treppen in die erste Etage manchmal steil, Böden und Balken häufig schief. Man sieht den historischen Fachwerkhäusern ihr Alter an, fühlt sich um Jahrhunderte zurückversetzt.
Wohin man in der Altstadt von St. Gallen schaut: Fachwerkhäuser
Geschäftsleute, Einheimische und Touristen schätzen das Ambiente und die leckeren, typischen St. Gallener Gerichte: traditionell zubereitetes Geschnetzeltes, Hackbraten, Kalbs-Leberli oder die berühmte St. Galler Bratwurst, die die beste der Schweiz sein soll und auf jeder guten Karte St. Galler Restaurants zu finden ist.
So, wie zum Beispiel im “Schlössli“, einem weit über St. Gallen hinaus bekannten erstklassigen Gourmet-Lokal in einem ehemaligen Herrschaftshaus aus dem 16. Jahrhundert, am Rande des Stiftsbezirks. Gastgeber Ambros Wirth, ein sympathischer Gastronom mit Leib und Seele, und sein mit 14 Gault-Millau-Punkten geadeltes Team servieren in den gemütlichen Schlössli-Gasträumen hauptsächlich regionale Produkte und Kreationen auf höchstem Niveau: Carpaccio vom Milchkalb zum Beispiel, Saiblingsfilet auf Gemüsebett, gebratenes Lamm nach einem Rezept aus dem 9. Jahrhundert oder das berühmte “Kartoffelsüppli von der blauen St. Galler Kartoffel”. Dieses “Süppli” ist die Spezialität des Hauses und wird mit einem Kartoffelschnäpsli, Kartoffelküchli und Knusperspeck serviert. Lecker!
Die Kartoffelsorte ist tatsächlich tief blau, wird exklusiv von St. Galler Bauern produziert, gilt als gesundheitsfördernd und soll vor allem Bluthochdruck senken helfen. An dieser aufwendig hergestellten Delikatesse aus blauen “Erdäpfeln made in Switzerland” haben sich im Schlössli schon das Norwegische Königspaar und andere Promis erfreut.
Video aus der Küche des Schlössli
St. Gallen ist aber nicht nur als Weltkulturerbe- und Gourmet-Stadt bekannt. Wer mit offenen Augen durch die Gassen der Altstadt flaniert, vorbei an den vielen Straßencafés, Boutiquen und Restaurants, wird die vielen, oft aufwendig gestalteten Erker an den Häuserfassaden bemerken, die meist aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen und an die erste Blütezeit der St. Galler Textilindustrie erinnern. Reiche St. Galler Textil-Kaufleute, die ihr Vermögen mit dem Export von Stoffen und Tüchern in alle Welt machten, überboten sich in der Gestaltung ihrer Erker: Reiche Verzierungen, aufwendige Schnitzereien mit Motiven exotischer Früchte, griechischer Götter und Tiere aus fernen Ländern sind Hinweise auf die Märkte, in die sie ihre Waren verkauften (“Africa”, “America”…). Oft sind auch frechen Fratzen abgebildet, die den Nachbarn klarmachen sollten: “Seht her, ich bin der Größte”.
Erker am Haus zum Pelikan in St. Gallen
St. Gallen hat eine sehr lange Textil-Tradition, die bis ins frühe Mittelalter zurückreicht. Das gespeicherte Wasser aus den “Drei Weieren” oberhalb der Stadt wurde auch zum Bleichen von Stoffen und Tüchern genutzt, für die St. Gallen weltberühmt war – und noch heute ist. Die Entwicklung dieser Tradition begann mit der Leinwandherstellung zum Einbinden von Büchern und der Baumwolltuch-Produktion, und führt über filigranste Hand-Stickereien zur noch filigraneren Maschinen-Stickerei, die hier entscheidend weiterentwickelt wurde.
St. Gallen: Welterbe-, Gourmet-, Erker- und Textil-Stadt
Die St. Galler exportierten ihre edlen Produkte erfolgreich in alle Welt. 1910 kam mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion von Stickereiprodukten aus St. Gallen und der Ostschweiz, die man deshalb auch heute “Textilland Ostschweiz” nennt. Die Fassaden imposanter Jugendstil- und Neurenaissancegebäude der St. Galler Textilkaufleute sind mit Globen und großen Köpfen verziert. Die Häuser tragen Namen wie “Oceanic”, “Pacific”, “Chicago”, “Britannia” oder “Washington”, die auf die Kontinente und Städte verweisen, in denen die Händler ihre wichtigsten Kunden hatten.
Zeughausgasse und Kirche St. Laurenzen
Seit 1886 befindet sich im Palazzo Rosso im Zentrum von St. Gallen das von den hiesigen Kaufleuten gegründete Textilmuseum. Seine Sammlung mit tausenden Textilien, Musterbüchern und Entwurfzeichnungen sollte der Industrie als Inspiration dienen – und begeistert heute viele Touristen. Besucher erfahren hier auch, was es mit der berühmten “St. Galler Spitze” auf sich hat: Mit Erfindung einer speziellen Ätztechnik im Jahr 1883 wurde die mechanische Herstellung filigranster Stickereien möglich: Dabei wird mit einer Lauge der Stickboden entfernt. Zurück bleibt ein wahres Spitzen-Produkt: Die feine, hochwertige Stickerei, deren Qualität zur besten der Welt gehört.
In diesen Schränken werden tausende Musterbücher archiviert
St. Gallen – Mönch sei Dank!
Kein Wunder also, wenn Stickereiprodukte aus St. Gallen, insbesondere die luxuriöse “St. Galler Spitze” auf den Haute Couture Präsentation in aller Welt zu sehen sind und von Designern wie Chanel, Christian Dior, Giorgio Armani und anderen verarbeiten wird. Der “Stoff aus dem die Träume sind” ist heute von Pariser, Mailänder und New Yorker Modeschauen nicht wegzudenken und kleidete schon Michelle Obama, Madonna und Georg Clooneys Braut Amal. Und Pippa Middleton, die Schwägerin von Prince William, als sie im Mai heiratete. In St. Galler Spitze – Mönch sei dank!
Nachts an der Kathedrale
Hotel-Tipp
Hotel Militärkantine
Kreuzbleicheweg 2
9000 St.Gallen
Tel. +41 71 279 10 00
Nur wenige Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt befindet sich dieses charmante Hotel in einem denkmalgeschützten Gebäude, das einst als Offizierskasino diente. Die Zimmer sind mit Möbelkreationen aus den 20er bis 70er Jahren eingerichtet. Fragen Sie nach einem Zimmer mit Blick in den Park und einer Badewanne neben dem Bett!
Weiterer Restaurant-Tipp
Das LOKAL in der Lokremise
Grünbergstrasse 7
9000 St.Gallen
Tel: +41 71 272 25 70
Sehr schick, sehr lecker! Das LOKAL ist Teil eines wichtigen Kulturzentrums, der Lokremise, und befindet sich im größten noch erhaltenen Lokomotiv-Ringdepot der Schweiz. Unbedingt reservieren!
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Lese-Tipp: Gotthard Panorama Express Ahoi!
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St.Gallen-Bodensee Tourismus
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